2014 Tübinger Friedenskonzert | Karl Jenkins – The Armed Man | A Mass For Peace
Mendelssohn Bartholdy – Verleih uns Frieden gnädiglich
Sonntag, 16. November 2014 (Volkstrauertag), 17 Uhr
Stiftskirche Tübingen
Mitwirkende:
Junge Sinfonie Reutlingen
Christine Müller, Mezzosopran
Ahmet Gül, Muezzinruf
Geleitwort von Dr. Günther Gebhardt,
wissenschaftlicher Projektkoordinator der Stiftung Weltethos
Mit dem Friedenskonzert unterstützt Semiseria
das Kulturprojekt Cinema Jenin im Westjordanland
Mit der Aufführung des Werkes „The Armed Man: A Mass of Peace“ von Karl Jenkins im November 2014 war der Wunsch verbunden, den Friedensgedanken und den Aufruf nach Solidarität mit den Opfern kriegerischer Gewalt in die Öffentlichkeit zu tragen. Während der Auseinandersetzung mit dem Werk und unter dem Eindruck unzähliger Meldungen über religiös motivierte kriegerische Konflikte in der Welt entstand bei uns der Wunsch, mit den Einnahmen des Konzerts ein Friedensprojekt zu unterstützen. Das Kulturprojekt Cinema Jenin mit seinem Anliegen, Menschen verschiedener Glaubensrichtungen ein friedliches Zusammenleben und –arbeiten zu ermöglichen, schien uns hier ein geeigneter Adressat.
Übergabe der Spende an Marcus Vetter
Am 3. Dezember konnte Semiseria 6.555,-€ an Marcus Vetter überreichen. Der Tübinger Dokumentarfilmer hatte den Wiederaufbau eines zerstörten Kinos in Jenin initiiert und das Projekt mit der Kamera begleitet.
Sein persönlicher Bericht von den Fortschritten und Rückschlägen, den Kinder-Aufführungen, Konzerten und Theaterstücken auf der Bühne des Cinema Jenin machte uns deutlich, wie gut unsere Spende in diesem Projekt angelegt ist.
Informationen über das Kulturprojekt Cinema Jenin: http://www.cinemajenin.org/new/
Unheiliger Krieg
Semiseria mit Jenkins‘ „The Armed Man“
„Zwischen all den Brahms- und Mozart-Requien landauf und landab, den Bach-Passionen jahrein und den Mendelssohn-Oratorien jahraus ist es sehr zu begrüßen, dass sich nach wie vor Chöre und Ensembles risikobereit an wenig bekannte Werke heranwagen. Und ganz besonders freute man sich für die Tübinger Semiseria und Chorleiter Frank Schlichter, dass die Stiftskirche am Volkstrauertag bei Karl Jenkins‘ Friedensmesse „The Armed Man“ (1999) mit rund 1100 Zuhörern vollbesetzt war.
Mit dem Einsatz der Militärtrommel ging das Licht aus – zum titelgebenden Soldatenlied „L’homme arme“ auf der Piccoloflöte „marschierten“ die 70 Sänger/innen der Semiseria mit betont hörbaren Schritten ein. In den 13 Messsätzen dekonstruiert Jenkins manche martialische Seite christlicher Sakralmusik, überhaupt jeder Religion mit alleinigem Wahrheitsanspruch. Günther Gebhardt, Projektkoordinator der Stiftung Weltethos, hatte in seinem Geleitwort auf den Marschrhythmus des Sanctus hingewiesen: Wird hier doch der Gott Sabaoth angerufen, der „Herr der himmlischen Heere“.
| Mancher Satz galoppiert wie Jagdmusik |
Zwischen den traditionellen Messsätzen versammelt Jenkins ein globales Panorama. Von Satiriker Jonathan Swift wählt er das ironischsarkastische Gedicht „Charge!“ (,,Angriff!“), um damit zuckrig süß den Heldentod zu besingen: „How blest is he who for his country dies.“ Dabei bläht sich der Chorsatz in immer monströseren Akkorden auf, bis er zuletzt in Geschrei und Tumult auseinanderfährt.
Der Semiseria-Chor arbeitete sehr schön die doppelbödigen Ambivalenzen dieser Musik heraus: ihre verführerisch mitreißenden Seiten, mit leichtem Swing und soghaftem Schub, das ernsthafte Ringen um transzendente Erlösung, aber auch die menschliche Anfalligkeit für religiösen Fanatismus. Wenn man Jenkins‘ musikpsychologische Analyse hört, fällt einem auf, dass ein Großteil der abendländischen Sakralmusik aus Herrschafts- und Machtgesten besteht: Das Hosanna etwa überhöht Jenkins mit kriegerischen Trompeten-Signalen, „Hymn before the action“ (Vortragsbezeichnung „eroico“) wartet mit „heldischen“ Hörnern auf, mancher Satz galoppiert daher wie Jagdmusik. Und zugleich ist es effektvolle, gut instrumentierte Musik, die Semiseria und Junge Sinfonie Reutlingen durch ihren bedingungslosen Einsatz in ihrer Wirkung noch steigerten. Ausdrucksvoll und klangschön zumal die Soli von Englischhorn, Cello oder Horn.
|Es ist doch ja kein andrer nicht |
Manchem mag der postmoderne Stilmix etwas zu bunt sein, mitunter auch zu sehr nach „Filmmusik“ klingen. Aber Jenkins schafft es, die unterschiedlichsten Facetten zu einer großen Klangwelt zu vereinen: den Muezzin-Gebetsruf (Ahmet Gül), das mittelalterlich angehauchte Kyrie (sphärisch das Sopran-Solo von Felix Koenen, Mitglied der Rottenburger Domsing-knaben), so anrührend wie appellierend die Arien (Mezzosopranistin Christine Müller; Tenorsolo: Semiseria-Mitglied Georg Schmid).
Zuletzt greift Jenkins das Soldatenlied wieder auf und wendet es nach Dur, verwandelt es in einen Friedensmarsch, den Semiseria in vollklingenden Glockenklang-Vokalisen schwingen ließ. Jenkins endet mit einem tröstlich leisen A-cappella- Choralsatz. Semiseria fügte noch Mendelssohns Luther-Vertonung „Verleih uns Frieden gnädiglich“ an. Hatte Jenkins gerade alle militanten Metaphern dekonstruiert, kam hier der monotheistische heilige Krieg durch die Hintertür wieder herein: „Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.“
Lange Stille nach dem letzten Akkord. Dann minutenlanger Applaus mit Standing Ovations für eine beeindruckende Aufführung. Das Konzert war ein Benefiz für das Projekt „Cinema Jenin“ (der genaue Spendenbetrag wird noch bekanntgegeben).“
Schwäbisches Tagblatt, 18.11.2014 (Achim Stricker)