Ethel Smyth auf dem Komponistinnenfestival 2023
Presse
Monumentaler Chorklang
Achim Stricker
Komponistinnen-FestGroßes Finale: Das Abschlusskonzert mit 300 Beteiligten und über 1000 Zuhörern in der Stiftskirche – von denen sich viele zum Schlussapplaus von ihren Sitzen erhoben.
Zehn Tage Musik von 50 Komponistinnen. Und ein gebührend großdimensioniertes Abschlusskonzert am Samstag in der Stiftskirche. Mit über 1000 Zuhörern war es das bestbesuchte Konzert des Musikfests und zugleich das am größten besetzte mit über 300 Mitwirkenden. Zweieinhalb Stunden Gesamtdauer, zwei großzügige Konzerthälften, jeweils einer der Hauptkomponistinnen des Festivals gewidmet.
Als Ouvertüre der Kopfsatz Allegro con fuoco aus Luise Adolpha Le Beaus Symphonie op. 41, 1895 in ihrer letzten Wahlheimat Baden-Baden uraufgeführt. Weltläufige Grandezza und gründerzeitliche Opulenz mit golden schimmernder Patina und viel Blechbläser-Glanz. Die Württembergische Philharmonie musizierte unter der souveränen und umsichtigen Leitung der Gastdirigentin Annedore Neufeld, Absolventin unter anderem der Tübinger Kirchenmusikhochschule, heute Leiterin der Basler Münsterkantorei sowie des Zürcher Bach-Chors.
In ihrem Grußwort dankte Kultur-Bürgermeisterin Daniela Harsch allen Beteiligten für ihren Mut und Einsatz zu diesem Festival und dem Publikum für seine Bereitschaft, sich auf all diese wenig bis unbekannten Werke einzulassen. Zuletzt die Ankündigung: „Wir machen weiter!“ So soll es künftig etwa bei den Schlosshof-Konzerten immer auch Werke von Komponistinnen geben.
Le Beaus größter Erfolg zu Lebzeiten waren ihre „Biblischen Szenen“ nach dem Buch Ruth. Seine Beliebtheit verdankte das 25-minütige Kurzoratorium seiner melodisch prägnanten Eingängigkeit und auch seinem handlichen, dramaturgisch vielfältig genutzten Format. Romantische Bilder in pointierten Genreszenen samt Erntetanz und Hochzeitsmarsch. Der rund 80-stimmige Bach-Chor (Einstudierung: Ingo Bredenbach) rahmte die solistischen Szenen mit textverständlich vokalklaren Bilderbuch-Chorsätzen. Bei den Solopartien ist Le Beau ganz in ihrem Element: wagnerischer Duktus, aber geschmeidig elegant. Dunkelwarme Farbmischungen im Terzett von Noemi (Marion Eckstein) und ihren Schwiegertöchtern Ruth (Jardena Flückiger) und Orfa (Thalia Fano). Sensationell klangvoll Bass Markus Eiche als reicher Bauer Boas, der die besitz- und heimatlose Ruth heiratet und sie so zur Stammmutter des Hauses David macht. Das abschließende Engelsquartett (Elena Müller, Maryam Jalalikandy, Thalia Fano und Lucie Müller) sang passend vom Lettner herab – das hätte Le Beau sicher gefallen.
Mit Mari Vihmand – Komponistin in Residence des Festivals – hatte das Musikfest am Freitag vor einer Woche begonnen. Konsequent war Vihmand auch im Abschlusskonzert vertreten, mit ihrem knapp viertelstündigen Orchester-Poem „Floreo“ („Ich erblühe“) von 1996. Wachstumsprozesse in Klang übersetzt, sagenhaft instrumentiert. Aufblühende Klangwolken aus filigran wirbelnden hohen Streicher- und Holzbläsertönen, kreisende Strudel und Kaskaden. Klang-Stürme mit herausstechenden Trompetenblitzen wie überwältigende Naturereignisse. Eine höchst beeindruckende Leistung von WPR und Annedore Neufeld. Außer dem Paukisten waren drei Schlagwerker im Einsatz. Trommeln in abwärts rasselnden Tonleitern und durchs Kirchenschiff flutende Schallwellen, wenn das Tamtam buchstäblich die Luft zerriss. Die plötzliche Stille nach den letzten erlöschenden Tönen klang neu und anders, sehr erfüllt. Die zweite Hälfte war Ethel Smyth gewidmet, eröffnet von der Ouvertüre zu ihrer Oper „The Wreckers“ („Strandrecht“), direktes Vorbild für Benjamin Brittens „Peter Grimes“. Imposantes Meerestosen und ferne Pauken-Brandung auch im Vorspiel zum zweiten Akt der Oper, „On the Cliffs of Cornwall“, in nördlich kühlen, maritimen Farben. Immer für Überraschungen gut, legte Smyth auch hier wieder einige unerwartete Hakenschläge und Kehrtwenden ein.
Kurz nach 22 Uhr dann das große Finale. Drei Tübinger Chöre zu einem 130-stimmigen Projektchor vereint: Semiseria (Einstudierung: Frank Schlichter), Johanneskantorei (Einstudierung: Wilfried Rombach) und Südwestdeutscher Kammerchor (Einstudierung: Judith Mohr). Ein monumentaler Chorklang mit einem guten Drittel Männerstimmen – und in seiner eindrucksvollen Aufstellung in fünf Chorreihen ein schönes, sichtbares Bild für das große bürgerschaftliche Engagement dieses städtischen Musikfestes.
Aus Smyths einstündiger Mammutmesse („Mass in D“) erklangen Kyrie und Gloria, zwei der insgesamt sechs Sätze. Ein festlicher, wirkungsvoll bis zuletzt gesteigerter Abschluss, sozusagen mit allem „Pomp and Circumstance“. Zwischen die ausladenden Chöre setzte das Vokalquartett (Jardena Flückiger, Sopran; Marion Eckstein, Alt; Dustin Drosdziok, Tenor; Markus Eiche, Bass) solistische Glanzlichter. Um halb elf der Schlussbeifall, zu dem sich immer mehr Zuhörer erhoben.
Komponistinnenfestival
Tübingen widmete der Musik sowie den Lebens- und Schaffensumständen von Komponistinnen ein zehntägiges Musikfestival. Der Schwerpunkt des Komponistinnen-Festivals liegt im 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen die Tübinger Komponistin Josephine Lang und drei ihrer Zeitgenossinnen: Emilie Mayer, Luise Adolpha Le Beau und Ethel Smyth.
Luise Adolpha Le Beau (1850-1927): Sinfonie F-Dur op. 41, 1. Satz „Allegro con fuoco“; „Ruth“, biblische Szenen für Soli, Chor und Orchester op. 27
Mari Vihmand (*1967): „Floreo“ für Sinfonieorchester (1996)
Ethel Smyth (1858-1944): Ouvertüre der Oper „The Wreckers“; „On the Cliffs of Cornwall“, Vorspiel zum 2. Akt der Oper „The Wreckers“; „Kyrie“ und „Gloria“ aus „Mass in D“ (1924)
Annika Mendrala – Sopran (Ruth, Mass in D)
Maryam Jalalikandy – Sopran (Ruth)
NN – Sopran (Ruth)
Marion Eckstein – Alt (Ruth, Mass in D)
Thalia Fano – Alt (Ruth)
Lucie Müller – Alt (Ruth)
Dustin Drosdziok – Tenor (Mass in D)
Markus Eiche – Bariton (Ruth, Mass in D)
BachChor Tübingen – Einstudierung Ingo Bredenbach (Ruth)
Chor Semiseria – Einstudierung Frank Schlichter (Mass in D)
Johanneskantorei – Einstudierung Wilfried Rombach (Mass in D)
Südwestdeutscher Kammerchor Tübingen – Einstudierung Judith Mohr (Mass in D)
Württembergische Philharmonie Reutlingen
Annedore Neufeld – Leitung
Stiftskirche Tübingen, Holzmarkt
Das Komponistinnen-Festival fand vom 29. September bis 8. Oktober 2023 statt.
Bildquellen:
- Festival-Grafik: © Universitätsstadt Tübingen / Swen Marcel.