Tiefschürfende Erkenntnisse

Schwäbisches Tagblatt, 6. Juli 2022, Regionale Kultur / Alfred Gloger

Konzert Die Gedanken sind frei: Ein Tiefgaragenkonzert mit Semiseria-Chor und der Band um Joo Kraus.

Die Garage – seit Gottlieb Daimler und William Henry Gates III Synonym für einen Ort der Erfindungen und Gedankenblitze – erzeugt in der Form der Tiefgarage logischerweise noch tiefschürfendere Erkenntnisse. So spürte Trompeter Joo Kraus nach fulminanter Interpretation des Lou-Reed-Songs „Vanishing Act“ dank Sequenzer, Tonschleifen-Generator, Mundstück-Trommel und Schallbecher-Gesang ganz neue „neuronale Netze“ im Hinterkopf.

Mit Moderation wurde aus den einzelnen Nummern ein Gesamtkunstwerk, unterbrochen nur vom Applaus. 

Bei „Viva la Vida“ (Coldplay 2008) sind die Semiserias die Kings des homophonen A-Cappella-Klangs. Auf der „Route 66“ beherrschen die Männerstimmen den Kick der Dauerriff-Intensität, während die Frauen sich wie improvisiert leicht durch die Städte am Straßenrand jubeln, dem fast 80-jährigen Oldie von Nat King Cole frischen Schwung verleihen. Auch gleichzeitiges Fünfer- und Dreiermetrum in „Die Gedanken sind frei“ vermag den Chor nicht aus dem Takt zu bringen.

Joo Kraus hat mit Jazz-Preisträger Sebastian Schuster am Kontrabass und Torsten Krill am Drumset, das er mit Besen und Händen subtil behandelt, neben Keyboarder Kleiner in jedem Stil ausgefuchste Könner an seiner Seite, Krill gibt dem Vokalsatz „Sayari Yetu“ im „Kein schöner Land“-Arrangement afrikanisches Flair, Schuster bringt bei jedem Song die idealen Patterns auf das Griffbrett, spielt in „Water Night“ von Eric Whitacre ein Traumwasser-Solo mit dem Bogen. Kleiner liefert Atmosphäre und einige bejubelte Soli. Nicht zu vergessen die vier Band-Titel, besonders beeindruckend „Paper Plane Patrol“ mit stetig wechselnden Klangwelten.

Die „Freiheit“ der Zugabe nahm sich Kroos mit Scheinabgang und Trompeten-Antworten aus den Tiefen der Garage, bevor alle Mitwirkenden dem Aufzug zum „Freedom“ auf der Terrasse im 7. Stock zustrebten, mit Einladung ans Publikum zum Feiern und Gesprächen über „Nationalstolz-Vibes“, das Metrum der „Gedanken“ oder die zukünftige Bedeutung der Winterlinde in welch schönem Land auch immer.

Alfred Gloger